Mit der Schliessung des Produktionsstandortes in Winterthur endet die mehr als zweihundertjährige Geschichte des Konzerns Rieter als produzierendes Unternehmen in der Eulachstadt. Deindustrialisierung und Stellenabbau hat das Gesicht der zweitgrössten Zürcher Stadt nachhaltig verändert. Aber Winterthur ist alles andere als ein Einzelfall.
Es war der Krieg, der für eine erste industrielle Blüte zwischen den Flüssen Eulach und Töss führte. Im Jahr 1812 befand sich der Grossteil Europas in den napoleonischen Koalitionskriegen. Um das Vereinigte Königreich aus dem Feld zu schlagen, plante der französische Kaiser eine Seeblockade der britischen Inseln. Diese Kontinentalsperre erschwerte aber auch den Zugang zu Produkten aus den frühindustriellen Zentren Englands. Vor allem betroffen davon: Textilprodukte. So fanden sich denn auch dankbare Abnehmer*innen für Schweizer Textilien auf den festlandeuropäischen Märkten.
Das ehemalige Winterthurer Kaufmannshaus Rieter begann diese Nachfrage mit einer eigenen Spinnerei direkt vor den Toren der Stadt am heute mehrheitlich überbauten Wildbach zu bedienen. Angetrieben wurden die Maschinen damals mit Wasserkraft. Nur ein paar Jahre später musste die Familie aber wegen der Niederlage Napoleons (und dem damit einhergehenden Ende der Kontinentalsperre) die Spinnerei wieder schliessen. Nach dem Sturz des Kaisers ergoss sich eine Flut billigen englischen Garns über den Kontinent. Die Geschichte der Industrie in Winterthur hätte damit wieder ein frühes Ende nehmen können. Doch die Nachfrage nach günstigen industriell gefertigten Textilprodukten wuchs auf den europäischen Absatzmärkten weiter.
Industrie statt Handel
Die Familie Rieter setzte auch nachher auf eigene Produktion. Erst beteiligte sie sich an verschiedenen Spinnereien in der Ostschweiz, bis 1827 in Niedertöss wieder eine eigene Textilfabrik eröffnet wurde. Die Entwicklung der Familie Rieter von der Kaufmannsdynastie bis hin zur industriellen Bourgeoisie war programmatisch für das damalige Bürgertum. Selbst der Umstand, dass der Clan erst auf Textilproduktion setzte, taugt zum Klischee: Spinnereien, Webereien und Stickereien dominierten diesen ersten Schub industrieller Revolution. Technologische Innovationen wie der mechanische Webstuhl oder die Spinning Jenny (eine englische Spinnmaschine) hatten diese Entwicklung ermöglicht und mit ihnen stieg auch die Nachfrage nach Industriemaschinen. Diese Nachfrage nach Maschinen kam nicht nur aus den Fabriken, sondern vor allem auch aus dem Bereich der Heimarbeit, in der 1850 noch drei Viertel der 200000 schweizerischen Industriearbeiter*innen beschäftigt waren. Und auch neue Erfindungen, wie die ersten profitablen Dampfmaschinen gaben Impulse.
Es dauerte dann auch nicht lange, bis sich die ersten Unternehmen daran machten, diese Nachfrage im Inland zu decken. Mit der aufkommenden Maschinenindustrie wuchs zugleich die Nachfrage nach Stahl aber auch nach Infrastruktur. Der Transport schwerer Maschinen und allgemein der immer zahlreicher in industriellen Zentren produzierten Güter machte die Eisenbahn zu einer immer grösser werdenden ökonomischen Notwendigkeit für die Kapitalisten der Frühindustrialisierung.
Ein anderes Gesicht
Die Städte dieser Welt wurden durch diese industriellen Prozesse grundlegend und nachhaltig verändert. Während in den urbanen Zentren die Mechanisierung einen hohen Bedarf an menschlicher Arbeitskraft produzierte, konnten durch Landmaschinen immer mehr Menschen durch immer weniger Landwirt*innen ernährt werden. Gerade unter der kleinbäuerlichen Bevölkerung kam es zu massenhafter Deklassierung. Diese Menschen, die ihr bisschen Land (ob sie es nun gepachtet oder besessen hatten) verloren, zog es in die Städte. Dort bildeten sie den Kern einer neuen sozialen Klasse, die den Lauf des Klassenkampfs und damit der Geschichte verändern sollte: Aus Bäuer*innen wurden Prolet*innen. Die Städte wuchsen, Industriequartiere schossen aus dem Boden, ebenso wie Arbeiter*innensiedlungen. Mittelalterliche Stadtmauern wurden eingerissen, um Platz für neue Stadtquartiere zu schaffen. Und die neuen Stadtteile wurden oft nach den Bedürfnissen der Industrie errichtet. In Winterthur entstanden riesige Werksgelände, wie das Sulzer-Areal, in denen Züge, Schiffe, Stahlteile, Maschinen und vieles mehr hergestellt wurden. Im Stadtteil Töss wurde Wohnraum für die Zehntausenden Arbeiter*innen geschaffen. Wie in englischen Vorstädten verlaufen hier heute noch linienförmig bescheidene Arbeiterhäuschen mit – ein Luxus damals – eigenen Gärtchen. Doch die Industrie, die einst das Gesicht von Städten wie Winterthur, Le Locle oder Arbon prägte, ist mehrheitlich Geschichte.
Das Ende vom Maschinenlärm
Als Marxist*innen geht es uns nicht darum, nostalgisch das Ende der Schwerindustrie in den Schweizer Städten zu betrauern oder gar einen Standortwettkampf um Arbeitsplätze mit unseren Genossi*nnen aus der internationalen Arbeiter*innenklasse zu inszenieren (wobei wir aber in den konkreten Kämpfen selbstverständlich gegen die mit Deindustrialisierung einhergehenden Massenentlassungen kämpfen müssen). Viel wichtiger ist es, zu verstehen, welchen Ursprung die Deindustrialisierung in der Schweiz hat und wie sie sich auswirken wird. Kurz: Wie sie zustande kam und wie sie die objektiven Bedingungen des Klassenkampfs beeinflussen. Denn zufällig und isoliert sind die Entwicklungen nicht, die dieser Deindustrialisierungswelle den Weg ebneten. Sie fanden ihren Ausdruck ebenso in den Minenarbeiterstreiks gegen die Regierung der britischen Premierministerin Thatcher wie im Niedergang der alten Automobilstadt Detroit, die einst boomte und 2013 Insolvenz anmelden musste.
Ein Faktor in dieser Entwicklung ist die Globalisierung. Schon Marx und später noch detailreicher Rosa Luxemburg beschrieben unter dem Begriff Akkumulation wie die Jagd nach Investitionsfeldern oder neuen Märkten die Kapitalist*innenklasse um den Erdball jagte, stets auf der Suche nach neuen Profitgelegenheiten. Im 19.Jahrhundert, Hochphase des Imperialismus, führte diese Jagd nach Kapital zur kolonialen Aufteilung eines Grossteils der Erde. Die Logik war klar: Nichtkapitalistische Bereiche sollten kapitalisiert werden. Getrieben wurden sie dabei von ihrer eigenen kapitalistischen Konkurrenz. Nur wer wuchs, billiger und mehr als die Konkurrenz produzierte, hatte eine Chance, auf den Märkten zu überleben – konkurrenzfähig zu sein.
Und täglich droht die Konkurrenz
Die Industrialisierung in Ländern Afrikas, Südamerikas und Asiens schuf Kapitalist*innen die Möglichkeit, das eigene Proletariat in Länder auszulagern, wo noch keine gewerkschaftliche Organisa-tionsrechte und würdige Löhne erkämpft worden sind. Wer dort produzierte, konnte es sich eher leisten, Arbeitsschutzbestimmungen zu ignorieren und skandalöse Löhne zu zahlen. Selbst Verbote von Kinderarbeit konnte das Kapital so umgehen. Und hier schlägt eben die zynische Profitlogik der gegenwärtigen Produktionsweise durch – wer der Marktlogik als Kapitalist*in nicht folgt, riskiert im Konkurrenzkampf unterzugehen.
Die Krise hat diese Prozesse nur noch verstärkt. Konfrontiert mit der Realität mit anderen Kapitalist*innen um kleiner werdende Kaufkraft zu konkurrieren (die überhaupt erst wegen Lohnsenkungen kleiner wird, die eingeführt wurden, um konkurrenzfähiger zu sein) werden vom internationalen Kapital stückweise auch Fetische, wie die Haltung dass «Made in Switzerland» für höherwertige Produkte stehe, aufgegeben. Dass dieses Label nicht mehr so viel wert sei, damit erklärte denn auch Rieter das Ende der Produktionsstätte in Winterthur. Ganze Städte und die Menschen, die in ihnen wohnen, Arbeitslosigkeit, Armut, Elend zählen nicht viel bei solchen Überlegungen. Dividenden und Jahresabschlussrechnungen schon.