Die Schweiz sprach auf Befehl der EU gegen elf Personen aus Venezuela harte Sanktionen aus, obwohl sich diese nie eines Verbrechens schuldig gemacht hatten. Die ach so neutrale Schweiz unterstützt aktiv die unaufhörlichen Bemühungen ihrer wichtigen Handelspartner, die legitime Regierung in Venezuela gewaltsam zu stürzen.
«Das Eidgenössische Departement für Wirtschaft, Bildung und Forschung, gestützt auf Artikel 16 des Embargogesetzes vom 22.März 2001, verordnet: 1.) Anhang 12 der Verordnung vom 28.März 2018 über Massnahmen gegenüber Venezuela wird geändert. 2.) Diese Verordnung tritt am 7.Juli 2020 um 18 Uhr in Kraft», so die karge Information des Staatssekretariats für Wirtschaft (Seco) am selben Tag. Die betroffenen Personen aus Venezuela dürfen nicht in die Schweiz einreisen und eventuelle Gelder auf Schweizer Konten können eingefroren werden. Doch warum und aus welchem Grund?
Über Nacht vom Nobody zum starken Mann
Um das Ganze einordnen zu können, sei an Folgendes erinnert: Am 5.Januar 2019 wurde Juan Gerardo Guaidó aus der rechten Partei Voluntad Popular (Volkswille) zum Präsidenten der Nationalversammlung Venezuelas, das Parlament, gewählt. Am 23.Januar erklärte er sich selbst zum «Interimspräsidenten» des Landes. Wenige Stunden später anerkannte die USA, welche Guaidó lenkt und finanziert, seine Selbsternennung. Es folgte die EU, sowie weitere Staaten, darunter auch die Schweiz. Aktuell anerkennen 54 Staaten Gauidó als «Interimspräsident».
Der in gutbürgerlichem Umfeld aufgewachsene Guaidó und bis zu diesem Zeitpunkt unbekannte, erfolglose Jungpolitiker (Jahrgang 1983) wurde praktisch über Nacht zu dem Mann, den die USA und ihre Verbündete an die Macht putschen wollen – koste es, was es wolle. «Spätestens am Tag seiner Wahl zum Parlamentspräsidenten begann eine lange Reihe von Telefonkonferenzen zwischen den Ultrarechten Venezuelas und der Trump-Administration in Washington», schreibt Toni Keppler in der WOZ vom 19.Mai 2019. Er zeigt so bestens auf, von welchen politischen Kräften Guaidó gestützt wird und in wessen Dienste er steht. Mehrmals hat er dazu aufgerufen und versucht, den demokratisch gewählten und legitim amtierenden Präsidenten Nicolás Maduro mit Gewalt zu stürzen. So auch Anfang Mai, als 60 schwer bewaffnete Oppositionelle und US-Söldner von Kolumbien her ins Land eindrangen mit dem Ziel, Maduro und weitere führende Politiker*innen zu entführen. Der US-Tageszeitung Washington Post liegt das vollständige 41-seitige Vertragsdokument mit der Söldnerfirma Silvercorp vor, indem Juan Guaidó eindeutig als «Oberbefehlshaber» der Operation aufgeführt ist (siehe dazu vorwärts-Nr. 17/18 vom 22.Mai 2020). Sämtliche Umsturzversuche scheiterten jedoch, nicht zuletzt am Widerstand breiter Teile der Bevölkerung.
Absurde Vorwürfe
Zurück in die Schweiz: Die von den Sanktionen betroffenen elf venezolanischen Staatsbürgerinnen und Staatsbürger haben hierzulande nicht mal eine Parkbusse bekommen, geschweige ein Gesetz gebrochen. Auch stehen sie nicht auf einer internationalen Fahndungsliste. Warum dann die Sanktionen? «Die Anpassung wurde im Nachgang an den Beschluss des Rates der Europäischen Union vom 29.6.2020 beschlossen, durch welchen diese natürlichen Personen in der EU sanktioniert wurden», erklärt die Pressestelle des Seco auf Anfrage des vorwärts. Konkret: Was auf Befehl von Washington in Brüssel beschlossen wurde, hat Bern eins zu eins übernommen, als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt – und niemand scheint sich gross darüber zu stören. Bedenklich, aber wahr.
Was wird den betroffenen elf Personen vorgeworfen? Als Antwort verweist das Seco auf seiner Homepage auf ein Dokument in englischer Sprache – offensichtlich vom EU-Dokument kopiert und auf ein offizielles Papier des Seco eingefügt. Darin sind die Namen aufgelistet und man erfährt, dass die Gründe der Sanktionen – man lese und staune – ihre Funktionen im venezolanischen Staate sind! So befinden sich auf der Liste eine Staatsanwältin und ein Staatsanwalt, ein ranghoher Offizier der Armee, der 2. Vizepräsident des Obersten Gerichtshofs des Landes, sowie der Vorsteher der nationalen Kommunikationsgesellschaft Conatel. Hinzu kommen der Präsident und die beiden Vizepräsidenten des 2015 demokratisch gewählten Parlaments (Assemblea National), in dem die rechten Parteien über eine Mehrheit verfügen. Abgerundet wird die Liste mit den beiden aktuellen Vizepräsidentinnen und ihren Vorgänger der Verfassungsgebenden Versammlung (Assemblea Nacional Constituente, ANC), die zwar in schwierigen Umständen aber dennoch 2019 mit einer Wahlbeteiligung von 44 Prozent gewählt wurden. Zum Vergleich: Die Stimmbeteiligung bei den Nationalratswahlen 2019 betrug 45 Prozent. Allen elf wird vorgeworfen, die «Demokratie und Rechtsstaatlichkeit» in Venezuela zu untergraben.
Bezeichnend ist auch die Tatsache, dass der Name des aktuellen Präsidenten des Parlaments auf der Liste steht. Er gehört der gemässigten, rechtskonservativen Opposition an und ist somit ein erklärter Gegner Maduros. Eine Opposition, die jedoch zerstritten ist. Dies ist sicher auch ein Grund dafür, dass die USA auf den ultrarechten Hardliner Guaidó setzt – und mit ihnen offensichtlich auch die Schweiz.
Demokratischen Prozess verhindern
Untergrabung der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit? Die Fakten sprechen eine andere Sprache, denn die elf Personen wurden nicht zufällig gewählt, genauso wenig wie der Zeitpunkt der Sanktionen: Am 6. Dezember 2020 finden in Venezuela Parlamentswahlen statt. Die Präsidentin des Nationalen Wahlrates (CNE), Indira Alfonzo, gab Anfang Juli den Zeitplan für die Wahlen bekannt, die laut Verfassung vor Ende des Jahres durchgeführt werden müssen. Dabei gibt es wichtige Änderungen bei den Normen sowie bei der Zahl der gewählten Abgeordneten. Diese wird für die Legislaturperiode 2021 – 2026 um 110 erhöht und neu 277 betragen.
Die Reformen folgen einem Urteil des Obersten Gerichtshofs, um mehr «politischen Pluralismus» zu gewährleisten. Nach Angaben des CNE sind derzeit 28 landesweite politische Organisationen, 52 regionale Parteien und sechs indigene Organisationen zu den Dezember-Wahlen zugelassen. Trotz all dem, haben Guaidó und sein Freund Trump in Washington die Wahlen bereits als ungültig erklärt und sie als «Farce» definiert. «Diesen verfassungsmässigen Wahlprozess jetzt im Voraus als illegitim zu verurteilen, ist ein Skandal. Und jene Personen, die ihn korrekt vorantreiben, mit Sanktionen zu belegen, gleich noch einer dazu – zumal darin auch solche der gemässigten Opposition vertreten sind», sagt René Lechleiter, Aktivist von Alba Suiza und langjähriger, profunder Kenner Lateinamerikas, dem vorwärts, und macht so gleich den Bogen wieder zur Schweiz. Statt einen demokratischen Prozess zu fördern, soll dieser mit allen Mitteln verhindert werden – und die Schweiz macht munter mit. Soviel zur Neutralität der Eidgenossenschaft.
Sanktionen sind tödlich
Gesetzliche Grundlage für die Sanktionen ist laut Seco das Embargogesetz (EmbG). Dieses erlaubt, «Zwangsmassnahmen zu erlassen, um Sanktionen durchzusetzen», die unter anderem «von den wichtigsten Handelspartnern der Schweiz beschlossen worden sind und die der Einhaltung des Völkerrechts, namentlich der Respektierung der Menschenrechte dienen.» Schauen wir genauer hin: Die «wichtigen Handelspartner» sind in diesem Fall die USA und die EU. Sie versuchen seit Jahren mit erwiesenermassen völkerrechtswidrigen Sanktionen, Venezuela zu erdrosseln, um so die demokratisch gewählte Regierung zu stürzen. Sanktionen, die selbst während der aktuellen Corona-Pandemie massiv verschärft worden sind. Ein Entscheid, der vielen Venezolaner*innen das Leben kosten kann. Denn für Venezuela ist es im Moment ein Vielfaches schwieriger an Lebensmitteln, Medikamente und lebenswichtige Gesundheitsversorgung zu kommen als es ohnehin schon war.
So stellen selbst elf US-Senatoren in einem Brief an Aussenminister Mike Pompeo und das US-Finanzministerium fest, dass «die US-Sanktionen die freie Zirkulation dringend benötigter medizinischer und humanitärer Hilfsgüter behindern, weil die Sanktionen eine breite lähmende Wirkung auf solche Transaktionen haben», während von Sanktionen betroffene Länder wie Venezuela «kämpfen, um auf ihre nationalen Gesundheitskrisen zu antworten».
Mit den Worten Brechts
Als direkte Folge der US-Sanktionen blockieren eine Reihe von Finanzinstituten illegal finanzielle Ressourcen, die dem venezolanischen Staat und somit dem Volk gehören. Wir reden hier von rund fünf Milliarden Euro, wie die «Europäische Kampagne zur Aufhebung der Sanktionen gegen Venezuela» festhält. Man kann davon ausgehen, dass dies nur die Spitze des Eisbergs ist. In diesem Zusammenhang hatte die Zentralbank von Venezuela (BCV), die Bank of England (BoE) am 14.Mai vor dem High Court wegen Vertragsbruchs verklagt. Die BoE verweigert seit zwei Jahren die Rückgabe venezolanischer Goldreserven im Gegenwert von rund einer Milliarde US-Dollar. Anfang Juli urteilte das Gericht gegen die BCV und somit gegen die Regierung von Präsident Maduro. Die britische Regierung habe «den Oppositionsführer Juan Guaidó eindeutig als Interimspräsident anerkannt», hiess es in der Begründung.
Nun, dass all dies nichts mit den Menschenrechten und dem Völkerrecht zu tun hat, muss kaum unterstrichen werden. Das Gegenteil davon zu behaupten, ist eine Lüge. So sei es dir, Helvetia, mit den Worten von Bertolt Brecht gesagt, was du in diesem Falle bist: «Wer die Wahrheit nicht weiss, der ist bloss ein Dummkopf. Aber wer sie weiss und sie eine Lüge nennt, der ist ein Verbrecher!»