Seit Ausbruch des Kriegs in der Ukraine befinden sich Hunderttausende von Menschen auf der Flucht vor dem Horror. Dabei erreichen viele die ungarisch-ukrainische Grenzstadt Záhony, so auch Kristina und ihre jüngere Schwester Diana. Eine Reportage.

«Nie hätten wir gedacht, dass der Krieg bis nach Kyiv kommt.» Kristina Melnky*, Mitte zwanzig, steht mit diesem zu grossen Pullover ihres Freundes auf Gleis 1 am Bahnhof von Záhony an der ungarischen-ukrainischen Grenze und wartet auf den Zug nach Budapest. Es ist der 6. März 2022, ein Sonntag. Keine 24 Stunden ist es her, da sie in Kyiv (Kiew) ihren Freund umarmte und auch ihren Vater, ein Abschied, der ihr so unwirklich vorkam, von dem sie nicht wusste, wird es ein kurzer sein oder wird er für lange dauern. Wie alle Ukrainer zwischen 18 und 60 Jahren wurden die beiden Männer von einem Tag auf den anderen ins Militär eingezogen. Würden sie einander je wiedersehen?

Wie ein grosser, weisser Ballon
Tags zuvor flohen ihre Eltern, die Grossmutter und Diana, ihre fast zehn Jahre jüngere Schwester, von Irpin nördlich von Kyiv in die ukrainische Hauptstadt. Erst als sie sich mit dem Nachtzug von Kyiv nach Záhony aufmachten, begann Diana zu erzählen, was an diesem Nachmittag, es war der 25. Februar, geschah. Zuerst sei da ein grelles Licht gewesen, das am Himmel zu sehen war, das sich ausdehnte vor ihren Augen wie ein grosser weisser Ballon, dann kam dieser Knall, dumpf, ein zweiter oder dritter, Diana wusste es nicht mehr, Menschen hätten geschrien und seien in alle Richtungen gerannt und der Himmel habe sich schwarz verfärbt, wie in einem Trickfilm sei das gewesen, erzählte Diana ohne Punkt. Eine halbe Stunde später hatte sie ihren Rucksack gepackt: eine Handvoll Kleider, ein weisser Mascara Stift, zwei Fingerringe, ein paar Game of Thrones-Bände. Sie hatte sich flugs eine Trainerhose angezogen, dazu Turnschuhe, einen weiten grauen Pulli, Handschuhe und ihre schneeweisse Winterjacke mit dem Nasa-Aufkleber.
Als Diana, ihre Eltern und Grossmutter am selben Abend bei Freunden in einem Luftschutzkeller Unterschlupf fanden, gingen die Bilder von Raketeneinschlägen und zerstörten Brücken in der Ortschaft Irpin, nur wenige Kilometer von Dianas zuhause entfernt, bereits um die Welt. Sieben Tage harrte die Familie im Bunker aus, dann fuhren sie am 3. März im Bus nach Kyiv, wo Kristina, Dianas ältere Schwester, sie erwartete. Zwei Tage später ging es mit dem Nachtzug weiter nach Záhony. Dort wurden ihre Pässe kontrolliert und Hilfsorganisationen, unter ihnen viele christliche, nahmen sie in Empfang, sprachen tröstende Worte und schöpften warmes Essen. Die Nacht verbrachten sie in der Turnhalle der Schule, die innert Tagen im Auftrag der Gemeinde von Záhony in ein Massenlager umfunktioniert wurde.

Vom Krieg wieder eingeholt
Wie viele der Hunderttausende Ukrainer*innen, die bis jetzt die ungarische Grenze überquert haben – insgesamt sind bereits 2,5 Millionen auf der Flucht –, haben Kristina und ihre Familie ein Ziel; sie wollen nach Deutschland. Dort leben Bekannte der Grossmutter Elena Pavlenko. Sie stammen, wie Elena, aus Donezk in der Ostukraine und mussten 2014 in den Westen fliehen. «Viele vergessen, dass in unserem Land schon seit acht Jahren Krieg ist», sagt Kristina. Durch die Geschichte der Grossmutter sei der Konflikt im Donbas, wie die umkämpfte Region in der Ostukraine genannt wird, bei ihnen Zuhause stets präsent gewesen. Nach den Maidan-Protesten im November 2013 in Kyiv nahm Wladimir Putin im März 2014 die Halbinsel Krim ein und sicherte wenig später den prorussischen Separatist*innen im Donbas seine unbedingte Unterstützung zu. Daraufhin besetzten diese die Gebiete um Donezk und Luhansk und riefen sie als unabhängige Volksrepubliken aus. Als Reaktion schickte die ukrainische Regierung ihr Militär in die Ostukraine. Der seit damals andauernde Krieg trieb 1,5 Millionen Menschen in die Flucht und forderte 14000 Tote, unter ihnen 3300 Zivilist*innen – die Opfer seit diesem Februar nicht mitgezählt.
Auch Elena floh kurz nach Ausbruch des Krieges aus Donesk in Richtung Kyiv. Weniger aus politischen Gründen oder einer anti-russischen Haltung heraus, sondern aus Angst. Ihr Mann war ein Jahr zuvor verstorben, nun war sie allein und geriet über Nacht zwischen die Fronten. Ihre Tochter war schon Jahre davor mit dem Schwiegersohn in die Nähe von Kyiv gezogen. Dort fanden sie, anders als im wirtschaftlich maroden Osten, wenigstens Arbeit. So packte Elena ihre Sachen und fuhr mit dem Zug über Kramatorsk in den Westen zu ihrer Tochter, bei der sie wohnte. Bis vor zweieinhalb Wochen Sirenen, Schüsse und Sprengsätze sie wieder einholten.

Dem Leben zugewandt
«Putin gefällt nicht, in welche Richtung sich unser Land entwickelt», sagt Kristina. Alle wüssten, dass eine unabhängige, ins westliche Bündnis strebende Ukraine für den russischen Präsidenten auf der ganzen Linie ein Affront darstelle. Und doch seien die meisten überrascht gewesen, hätten nicht damit gerechnet, dass Putin Panzer und Bomben schicken werde. Man habe sich dem Leben zugewandt, der Familie, den Freunden, der Arbeit, der Zukunft, aber nicht ständig der Politik. Dass Putin im Frühjahr 2021 seinen Angriff in die Wege leitete, wie Geheimdienste warnten, nahm die ukrainische Bevölkerung kaum wahr. Damals stationierten sich im Rahmen einer russisch-belarussischen Militärübung mit Namen «Sapad 2021» an der ukrainischen Grenze Truppen, die nach Ende des Manövers nicht mehr abzogen. Weitere Bataillone aus der Nähe Moskaus wurden ebenfalls in Richtung Ukraine verlegt. Die Washington Post zitierte eine anonyme Quelle aus dem US-Geheimdienst, wonach Putins Regierung Anfang 2022 eine Grossoffensive auf die Ukraine plane. Bereits damals waren 175000 Soldat*innen kampfbereit an der Grenze.

Angekommen
Inzwischen ist am Bahnhof von Záhony auf Gleis 1 der Zug nach Budapest eingefahren. Kristina schultert den Rucksack, nimmt zwei Taschen. Diana stapft in ihrer Astronautenjacke voran. Sie sagt, sie wisse gar nicht, warum das alles passiere. Sie hätte doch zuhause bleiben wollen. In die Schule gehen, sich mit ihren Freundinnen über Manga unterhalten. Und endlich Dostojewski lesen. Aber nicht ein billiges Taschenbuch, eine gebundene Ausgabe müsse es sein. Von ihrer Schwester weiss sie, dass es in seinen Büchern um die ganz grossen Themen geht, um Sühne und Vergeltung, um Hoffnung und Verderben.
Die Zugreise nach Budapest wird vier Stunden dauern, dann will die Familie weiter nach Deutschland. Tags darauf und fast 2000 Kilometer westlich von Kiew, poppt auf dem Handy eine Nachricht der Schwestern auf: «Sind angekommen, müde, aber es geht uns gut.»

*Namen geändert