Vom 1. bis 4. September und dem 2 .bis 5. November trafen sich zwei Delegationen der EZLN, einer Guerilla aus dem südöstlichen Mexiko, im Rahmen ihrer dreimonatigen «Reise für das Leben» durch Europa mit Kollektiven, Einzelpersonen und Organisationen von unten links. Welche Bedeutung hat diese Reise? Und was können wir als revolutionäre Linke, die in urbanen Zentren kämpfen, von dieser antikolonialen Initiative lernen?

Ahorita. Bald. Dieses Wort kann viel bedeuten im mittel-und südamerikanischen Spanisch. Es kann sich um Sekunden aber auch um Monate handeln. Im Falle der Realisierung und Organisation der Reise für das Leben (Gira por la vida), der Reise von 177 Zapatistas durch Europa, trifft diese Zeitdimension definitiv für alle Beteiligten zu. Trotz Pandemie, Rassismus und Klassismus und dem Risiko, das für eine Guerilla nun mal besteht, wenn sie ihr Schutzgebiet der waldigen Berge verlässt, landeten anstatt Mitte Juli am 22. September 2021 177 Zapatistas am Wiener Flughafen.

Die aus der Zeit Gefallenen
Die Delegation der zapatistischen Armee der nationalen Befreiung, EZLN (ejército zapatista de liberación nacional), hat sich nach der Bezeichnung durch die mexikanische Migrationsbehörde den Namen La Extemporánea (die aus der Zeit Gefallenen) benannt. Die Verweigerung der Ausstellung des mexikanischen Passes durch die mexikanischen Migrationsbehörde an Mitglieder der Guerilla mit der Begründung, sie seien nicht zeitgenössisch, sprich, nicht Teil der (mexikanischen) Gesellschaft, ist sinnbildlich für den Rassismus, gegen den indigene Menschen in Mexiko nach wie vor ankämpfen müssen. Die Guerilla widemt sich seit 1994, nach einem zwölftägigen Aufstand dem Aufbau autonomer Gesellschaftsstrukturen in Gemeinden in abgelegenen Berg- und Urwaldzonen nahe der Grenze zu Guatemala. Sie hat durch zahlreiche Initiativen sowohl in Mexiko als auch auf internationaler Ebene eine grosse solidarische Gemeinschaft hinter sich und die Anerkennung indigener Selbstbestimmung ins Bewusstsein einer breiteren Masse gerückt.

No nos conquistaron – ihr habt uns nicht erobert!
Wieso all diese Mühe? Wieso jetzt? Am 13. August 2021 jährte sich die Eroberung Mexiko Stadt’s zum 500sten-Mal. Das symbolische Datum hat die EZLN zum Anlass genommen, den Spiess umzudrehen, wie sie am 1. Januar 2021 im Kommuniquée «Deklaration für das Leben» zur Reise verlautbaren liessen: «Ihr habt uns nicht erobert». Einerseits mussten zur Realisierung der Reise hier in Europa zuerst erhebliche Zweifel bezüglich der Logistik an der Möglichkeit der Durchführung dieser Reise aus dem Weg geräumt werden. Dies gelang sicher auch auf Grund des extrem symbolischen und politisch wertvollen Inhalts dieser Initiative – und der grossen internationalen solidarischen Gemeinschaft hier in Europa, die seit dem Aufstand aufgebaut wurde. Angemerkt sei, dass die EZLN ihre Gebiete offiziell nur einmal 2003 im Zusammenhang mit der Karawane der Farben nach Mexiko City verlassen hat. Viele der Menschen der Guerilla, die seit einigen Wochen durch Europa reisen, haben zuvor die Berge noch nie verlassen. Sie sind meist Bäuer*innen und sprechen Tzeltal, Tzotzil, Chol, oder Tojolabal, und sind daher oft auf die Kolonialsprache Spanisch zur Verständigung untereinander angewiesen. Die Delegation besteht zu 75 Prozent aus Frauen*. Diese Gewichtung verdeutlicht den Stellenwert der Frauen* in der Organisation.
Ziel der Reise ist es laut der EZLN, sich mit Kollektiven und Organisation von unten links, die in Europa kämpfen, auszutauschen. In einem der Treffen in Zürich sagte uns eine 21-jährige Compañera: «Wir sind gekommen, um euch zu zuhören und um euch unsere Worte zu verkünden.» In einer Rede am 24. September in Wien hält die Compañera Libertad bezüglich der Zerstörung der Madre Tierra, der Natur fest: «Wir, Pueblos Zapatistas, nennen diesen Mörder-Macho beim Namen: Kapitalismus. Und wir sind in diese Geographien gekommen, um euch zu fragen: Werden wir weiterhin denken, mit Salben und Schmerzmitteln seien die verletzenden Schläge von heute zu lindern – obwohl wir wissen, dass morgen die Wunde noch größer und tiefer sein wird?»
Als die EZLN am 5. Oktober 2020 diese Reise erst-mals ankündete, begannen wir uns hier in Zürich als FLINTA-Kollektiv Encuentro Feminista Zapatista Zürich/Basel zu organisieren und haben uns mit anderen Städten in der Schweiz vernetzt. Als Schweizer Koordinationsgruppe, die sich zu diesem Zweck ebenfalls gegründet hat, haben wir an europaweiten Sitzungen zur Vorbereitung und Realisierung der Logistik der Reise teilgenommen.

Der Escuadron 421
Die Zapatistas sind bekannt für ihre poetische und symbolisch-philosophische Politik. Trotzdem war es kaum zu glauben, dass die Ankündigung, die Umkehrung der Conquista durch die Überquerung des Atlantiks per Schiff realisieren zu wollen, im Juni in die Realität umgesetzt wurde. Sieben Zapatistas, der Escuadrón 421 (Geschwader 421) kamen nach sechswöchiger Seefahrt in Vigo, Galizien, an. Der Escuadrón hat uns Ende August in einigen Schweizer Städten, unter anderem in Basel und Zürich besucht. Am dreitätgigen Aktionscamp auf der Dreirosenmatte fanden Diskussionen und Austauschrunden mit den Compañeras statt. Sie erzählten uns in mehrstündigen Vorträgen erstmals seit ihrer Ankunuft in Europa öffentlich von der Geschichte ihrer Vorfahren in kolonialen Verhältnissen, der Organisation in der Klandestinität, dem Aufstand 1994, dem Aufbau und der Funktion ihrer autonomen Strukturen und der Organisierung der Frauen* und der Jugendlichen innerhalb der Organisation. In Zürich organisierten wir kleine Treffen mit Gruppen von unten links. Dazu gehörte auch der Besuch im Koch Areal samt einer öffentlichen Veranstaltung zu Transidentitäten, in der Mari José – Transfrau und Zapatista – über ihren persönlichen Kampf um Anerkennung ihres Geschlechtes in den zapatistischen Gemeinden erzählte. Ihre Geschichte hat Mari José aus ihrer revolutionären Perspektive mit unglaublicher Überzeugungskraft und einem Selbstverständnis geschildert. Sie hat damit einmal mehr die unglaubliche Aussagekraft dieser Reise bewiesen.

Der gemeinsame Feind
Mitte Oktober trafen dann eine Männergruppe von fünf Compañeros und eine Frauengruppe von sechs Compañeras der Extemporánea in Genf ein. Es folgten Treffen in der Westschweiz, im Jura, in Bern, Glarus, dem Tessin, Basel und Zürich. Als Organisationsgruppe in Zürich haben wir kleine Treffen mit den Compañeras und Kollektiven, Einzelpersonen und Organisationen veranstaltet, aber auch einen Nahrungsmittelfermentier-Workshop durchgeführt oder den Wochenmarkt, das Radio Lora und das Koch Areal besucht. Eine unserer zentralen Fragen lautete, was die zapatistische Autonomie und ihr Kampf für das Leben mit unseren Kämpfen und Strukturen hier verbindet, welche Rolle der Internationalismus spielt und was Klimaaktivismus hier und da bedeutet. Der folgende Satz einer der Compañeras beantwortete prägnant diese Fragen : «Wir sind nicht gekommen, um euch zu sagen, ihr sollt uns kopieren. Aber es ist wichtig zu wissen, dass auch hier gekämpft wird. Denn wir haben einen gemeinsamen Feind: Er heisst Kapitalismus.»
Wir kämpfen und organisieren uns hier, in den urbanen Zentren der Bestie. Der Kontext könnte anders nicht sein. Was nehmen wir also mit von dem Besuch, dem Austausch und den Worten der Compañeras? Für eine tiefergreifende Reflexion fehlte uns bis anhin schlicht die Zeit. Unübersehbar war jedoch, wie wichtig autonome Räume in urbanen Zonen sind, dass Antikapitalismus und der Kampf gegen Umweltzerstörung zusammen gedacht werden muss, dass patriarchale Unterdrückung und die Ausbeutung der Natur eine unheilige Allianz miteinander führen, und dass sich die Kämpfe und die Organisation gegen die kapitalistische und patriarchale Gewalt überall auf der Welt bestärken müssen und notwendig sind, seien sie noch so fragmentiert und klein. Sprich: Wir müssen uns vernetzen. Die Zapatistas haben mit dieser Initiative wieder einmal bewiesen, dass das Unmögliche möglich sein kann. Dass eine andere Welt möglich ist. Als Bewegungen von unten links müssen wir dies weiterdenken und Wege finden, dies in die Praxis umzusetzen.
Alto a la guerra contra comunidades zapatistas!!

Die Autorin ist aktiv beim FLINTA-Kollektiv Encuentro Feminista Zapatista Zürich/Basel.
Die Redaktion dankt für den Beitrag.
Die Reden der Compañeras in Zürich werden bald auf Radio Lora zu hören sein. Kontakt und weitere Infos: chiapas.ch;
viajezapatista.eu/es/