Immer mehr eingefleischte Fussballfans schliessen sich dem Boykott gegen die Weltmeisterschaft in Katar an, an der am 20.November das erste Spiel angepfiffen werden wird. Einer von ihnen ist Ueli Herzog (63) aus Zürich. Der vorwärts sprach mit ihm über die Gründe des Boykotts, die Entwicklung des modernen Fussballs und mögliche Alternativen dazu.

Ueli, was sind die Hauptgründe des Boykotts?
Sicher die mehreren Tausend tote Arbeiter*innen beim Bau der Stadien und die Arbeitssituation im Allgemeinen in Katar. Dann auch die nicht vorhandenen Rechte der Minderheiten, der Frauen*, was eigentlich als Erstes zu nennen ist. Der Staat Katar ist eine Diktatur, regiert von einer Kaste von Reichen. Ein Stimmrecht gibt es nur für die Mitglieder der Königsfamilie. Die ganze wirtschaftliche Macht ist gebündelt in den Händen von einigen Clans, der Rest sind Wanderarbeiter*innen, Gastarbeiter*innen und Entrechtete. Wenn man mit dem Flugzeug ins Land fliegt, sieht man von oben einen Termitenhügel mit kleinen Löchern. Dort drin wohnen die Arbeiter*innen. Weiter oben, wo die Luft besser ist, befinden sich die Villen von denen, die im Staat bestimmen. Ein Staat mit unendlichem Reichtum an Öl.

Sind das auch deine persönlichen Gründe, warum du die WM in Kater boykottierst?
Ja, aber es kommen weitere dazu. Die Vergabe der diesjährigen WM an Katar war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Schon bei den Weltmeisterschaften in Südafrika, Brasilien und Russland hatte ich ehrlich gesagt ein schlechtes Gefühl. Ich las im Nachhinein Studien, was mit den WM-Bauten wie etwa die neuen Stadien geschah, die mit den Steuergeldern des Volks gebaut wurden. Die Profite flossen in die Taschen des Weltverbands des Fussballs, die Fifa, und in jene der weltweiten Bauunternehmen, die die Stadien bauten, respektive renovierten. Ich erinnere daran, dass es eine Vorgabe der Fifa ist, dass nur in neugebauten oder neu renovierten Stadien gespielt werden darf. Und es ist die Fifa, die bestimmt, welche Bauunternehmen die Arbeiten bekommen und so die entstehenden Milliardengewinne abschöpfen können. Viele dieser Stadien verrotten. Oder das Beispiel des Stadions in Manus, im brasilianischen Urwald: Der Heimklub spielt nicht im Stadion, das für die WM erbaut wurde, weil er sich die Miete nicht leisten kann.

Und was sagte dir also dein Gefühl bezüglich der WM in Katar?
Fertig, so nicht mehr. Mit dieser WM in Katar kann ich als Fussballfan nicht ein Monat lang ein Spiel nach dem anderen anschauen und am Morgen dann aufstehen, in den Spiegel schauen, ohne mich dabei zu fragen: Empfindest du noch etwas? Hast du kein Mitgefühl mehr für die Opfer? Wie lange willst du dir noch mitanschauen, dass der Fussball als Machtinstrument eingesetzt wird?

Was kann der Boykott bewirken? Was sind die Ziele?
Für mich ist der Boykott ein Mittel, das Bewusstsein der Leute, das bei vielen schon latent vorhanden ist, zu fördern. Wir alle haben irgendwo einen Punkt, an dem wir sagen: Nein, da mache ich nicht mehr mit. Oder ich hoffe zumindest, dass wir so einen Punkt haben, sonst kommen wieder der Faschismus und düstere Zeiten auf uns zu. Ich kann es für mich nicht mehr verantworten. Es geht darum, in den Köpfen der Menschen etwas auszulösen. Der Boykott kann helfen, auf die Missstände hinzuweisen,,Und zwar im Fussball wie auch in der Gesellschaft. Man kann den Menschen ein stückweit die Augen öffnen. Und wenn man der Fifa schaden will, kann es nur durch tiefe Einschaltquoten geschehen. Der Boykott hat sicherlich eine breite Diskussion über Werte, Moral, Konsum und vieles mehr ausgelöst. Ein Ziel ist daher bereits erreicht.

Wie wird der Boykott wahrgenommen?
Ich nehme viel Zustimmung wahr, vor allem von Fussballinteressierten. Aber ich weiss auch, dass einzelne Bars, die eher fortschrittlich sind, die WM-Spiele zeigen, weil – wie sie behaupten – ein Boykott eh nichts bringt. Dann gibt es auch diejenigen, die – wie in einem Artikel in der WOZ zu lesen ist –, polemisch die Frage stellen, warum bereits nicht frühere WM-Turniere boykottiert wurden. Ja, moralisch stimme ich ihnen zu: Man hätte es schon viel früher machen müssen. Aber, ist das Nichtstun von früher ein Grund, um heute nichts zu tun? Für mich nicht.

Besteht ein Zusammenhang des Boykotts mit der Entwicklung des Fussballs der letzten Jahre, gar Jahrzehnte?
Natürlich besteht hier ein Bezug. Das Business Fussball ist für mich viel zu fest aufgeblasen und zu fest auf einzelne Personen fixiert. Mich graust es auch vor diesen Cüpli- und Edelhäppchenlogen in den Stadien, diese Mentalität von «wer zahlt befiehlt». Ich weiss, dass guter Fussball nur mit Sponsoren möglich ist. Ich habe das Glück, dass in meinem Verein, dem FC Zürich, ein Patron alter Schule, sagen wir es mal so, das Zepter schwingt. Und wir gehören noch nicht einem Grosskonzern an, der seelenlos von irgendwo seine Fussballabteilung lenkt, Spieler hin und her schiebt und austauscht. Angefangen hat dies in den 1980er-Jahren mit dem Konzern Philips und dem PSV Eindhoven, der praktisch das Monopol auf den Direktimport junger brasilianischer Talente hatte. Weiter ging es mit Red Bull Salzburg und Red Bull Leipzig. Das sind gelenkte Sportkonzerne, die die Zuschauer*innen als Kund*innen sehen und nicht als Fans, die aus Liebe ihren Herzensverein unterstützen.

Du sprichst die Kommerzialisierung des Fussballs an. Wo führt sie hin?
In eine seelenlose Weltliga, analog der Politik, in der es ein G8 und G20-Treffen der grossen Weltmächte gibt. Oder so wie in der Wirtschaft, in der Riesenkonzerne wie Google, Amazon und wie sie sonst heissen, die Welt beherrschen. Ich warte nur noch darauf, dass auch die Waffenindustrie ins Fussballgeschäft einsteigt.

Und warum wartest du darauf?
Ja, dann ist es endgültig und wohl auch wirklich allen klar, um was es geht. Sklaven haben wir im Fussball schon, es ist wie im alten Rom. Dort sind wir jetzt. Aber wenn auch noch die Kriegsindustrie einsteigt … Oder vielleicht kann man in Zukunft einen Spieler oder eine Mannschaft klonen, mit den Genen von Ronaldo und einer Spitzensportlerin, um ganz bestimmt erfolgreich zu sein.

Übertreibst du jetzt nicht ein wenig?
Nein, es ist bekannt, dass es im Kapitalismus immer Luft nach oben gibt, wenn es um Perversitäten geht. Ich bin jetzt 63 Jahre alt, verfolge also den Fussball und das Weltgeschehen seit 50 Jahren. Und immer wenn ich dachte, mehr geht nicht, wurde noch eins draufgesetzt.

Gibt es Alternativen zu dieser Entwicklung?
Die traditionellste und stärkste Bewegung dagegen kommt von den Fussballfans selbst. Für mich ist die Ultra-Bewegung ganz klar Ausdruck einer anderen Ausrichtung. Die englische Bewegung «Against modern Football», also «Gegen den modernen Fussball», ist auch immer nennenswert. Konkretes Beispiel sind die Fans von Manchester United, die nicht mehr an die Spiele gehen, weil sie sich das Ticket nicht mehr leisten können. Sie haben einen eigenen Verein gegründet, der in den unteren Ligen rumkickt. Der Verein gehört vollumfänglich den Supporters. Es ist keine grosse Bühne und sicher kein Spitzenfussball, aber es gibt eine Assoziation zum sogenannten «freien Fussball». Ich selbst habe auch immer mehr Freude daran, am Sonntagmorgen ein Zweitligaspiel meines Quartiervereins anschauen zu gehen, als mir ein Spiel der Champions League reinzuziehen. Auch die Groundhopper-Bewegung, bei der es darum geht, möglichst viele Spiele in verschiedenen Stadien zu sehen, ist aus Liebe zum einfachen Fussball entstanden. Das Erforschen neuer Länder, neuen Grounds, also Stadien, neue Fanfreundschaften gründen, all das steht im Vordergrund und nicht der Kommerz. Um was geht es also im Fussball? Um Fragen wie: Was kostet das Bier, was die Wurst im Stadion? Ist das Ticket noch bezahlbar? Habe ich den Plausch mit Kolleg*innen? Kann ich einen entspannten Sonntagnachmittag beim Fussball verbringen? Das sind die wichtigen Fragen. Fussball ist die schönste Nebensache der Welt, hat mir mein Vater mal beigebracht. Das soll der Fussball sein und bleiben – und nicht dieser hoch kommerzialisierte Verkauf des Produkts Fussball. An dieser Stelle erinnere ich gerne an Bill Shankly, schottischer Fussballspieler in den 1930er- und 1940er-Jahren, dann Trainer des FC Liverpools von 1959 bis 1974. Er war ein überzeugter Sozialist und sagte: «Im Sozialismus, an den ich glaube, arbeitet jeder für den anderen und alle bekommen einen Teil des Gewinns. So sehe ich Fussball, so sehe ich das Leben.»

Kommen wir zum Boykott der WM in Katar zurück. Wie ist die Bewegung entstanden?
Die Bewegung umfasst mittlerweile den ganzen Erdball. Entstanden ist sie in Deutschland. Also in dem Land mit einer sehr grossen Bewegung rund um den Fussball und einer ausgeprägten, aber auch kritischen Fussballkultur. Der Deutsche Fussballbund (DFB) hat mehr Mitglieder als die Schweiz Einwohner*innen. Es gibt daher viele Menschen, die den Fussball lieben, darunter auch Intellektuelle, die verschiedene Themen rund um den Fussball ansprechen. So ist es kein Zufall, dass die Anfänge der Bewegung mit dem Skandal der Vergabe der WM 2006 in Deutschland zusammenhängen. Im Herbst 2015 wurde klar, dass auch für die WM, die so gerne als das «deutsche Sommermärchen» bezeichnet wird, Bestechungsgelder geflossen sind – so wie bei jeder Vergabe. Von dort war der Weg nicht mehr weit bis zum genaueren Hinschauen bei der Vergabe der WM nach Katar. Federführend waren und sind fortschrittliche Fussballfans. Ausschlaggebend war auch ein Autor*innenkollektiv, der «Verlag Werkstatt» mit Bernd-M. Beyer und Dietrich Schulze-Marmeling, die das Buch mit dem Titel «Boykott Katar» veröffentlicht haben. In ihrer Kritik stellen sie dem DFB unter anderem die Frage: Wie weit wollt ihr noch gehen?

Wie bist du zur Bewegung gestossen?
Vor etwa drei Jahren wurde ich von Kolleg*innen aus Deutschland über die sozialen Medien gefragt, was wir denn hier in Zürich, beim Hauptsitz der Fifa, im Herzen der Bestie, machen würden. So nach dem Motto: Wir boykottieren, was tut ihr? Ich schaute mich in meiner Stadt um und fand nichts. Ich hoffte, dass sich irgendwann mal was bewegen würde. Aber es geschah nichts, oder wenig. Und vor etwa einem halben Jahr lupfte es mir den Deckel und ich begann, mich in die ganze Boykottgeschichte zu vertiefen.

Hast du eine Botschaft an die Menschen, die sich die WM reinziehen werden, als wäre nichts?
Ja, eine moralische und ich formuliere sie auch böse: Wie kannst du dir das antun? Kannst du am Morgen noch in den Spiegel schauen, wenn du weisst, dass du dir am Abend zuvor ein Fussballspiel reingezogen hast, das auf Leichen basiert?

Du sagst von dir, dass du seit der WM 1966 in England kein WM-Spiel verpasst hast. Wie fühlst du dich vor dieser WM?
Beschissen. Aber ich bin auch froh, eine Pause einzulegen. Wohl auch deswegen, weil wir mit dem FC Zürich einige stark emotionale Monate hinter uns haben – von ganz oben nach ganz unten. Ich werde mehr Zeit haben, andere spannende Dinge zu machen, wie gesellige Abende mit Freund*innen verbringen, über irgendein Thema diskutieren, das nichts mit dem Fussball zu tun hat. Darauf freue ich mich.

Stellungsnahme der Redaktion
Wann ist ein Boykott sinnvoll?

Ausführliche Infos und Material zum Boykott: boycott-qatar.de